Die evangelische Kirche in Deutschland hat während der Zeit des Nationalsozialismus eine zwiespältige Rolle eingenommen. Während es mutige Christen gab, die sich gegen das Regime stellten, waren andere Vertreter bereit, sich den Nationalsozialisten anzupassen oder ihre Ideologie zu unterstützen. Dieser Beitrag beleuchtet die Verstrickung der evangelischen Kirche mit dem NS-Staat vor, während und nach der Diktatur Adolf Hitlers.
1. Die evangelische Kirche vor 1933: Antisemitismus und Deutschnationalismus
Bereits vor der Machtergreifung Hitlers gab es innerhalb der evangelischen Kirche Strömungen, die antisemitische und deutschnationale Ansichten vertraten. Diese Einstellungen waren oft tief in der Theologie und Kultur des Kaiserreichs verankert. Die Dolchstoßlegende und die Demütigung des Versailler Vertrags verstärkten nationalistische Gefühle in der Weimarer Republik, die auch in kirchlichen Kreisen Widerhall fanden.
Einige führende Theologen unterstützten die Vorstellung einer „Volksgemeinschaft“, die mit einer Ausgrenzung von Juden und anderen Minderheiten einherging. Dieser theologische Nationalismus bereitete den Boden für eine weitgehende Akzeptanz des Nationalsozialismus.
2. Die evangelische Kirche während der NS-Zeit: Anpassung und Widerstand
Die Deutschen Christen: Eine pro-nazistische Bewegung
Mit der Machtergreifung Hitlers 1933 gewann die Bewegung der Deutschen Christen an Einfluss innerhalb der evangelischen Kirche. Diese Gruppierung unterstützte aktiv die nationalsozialistische Ideologie und versuchte, die Kirche auf Linie mit dem NS-Staat zu bringen. Die Deutschen Christen propagierten ein „arisches Christentum“, das jüdische Einflüsse ablehnte und Jesus als „arischen Kämpfer“ darstellte. Sie wollten die evangelische Kirche zu einer „Reichskirche“ machen, die sich vollständig dem NS-Staat unterordnet.
Ein trauriger Höhepunkt dieser Verstrickung war der sogenannte „Arierparagraph“, den die Deutschen Christen in die kirchlichen Ordnungen einbringen wollten, um Menschen jüdischer Abstammung aus der Kirche auszuschließen.
Die Bekennende Kirche: Ein zaghafter Widerstand
Gleichzeitig formierte sich die Bekennende Kirche, die sich gegen die Gleichschaltung der Kirche stellte. Persönlichkeiten wie Dietrich Bonhoeffer und Martin Niemöllersprachen sich gegen die Unterwerfung unter das NS-Regime aus. Allerdings war der Widerstand innerhalb der Bekennenden Kirche nicht einheitlich. Viele Mitglieder lehnten zwar die politische Einmischung des Staates in kirchliche Belange ab, blieben jedoch still zu zentralen Verbrechen des NS-Regimes, insbesondere dem Holocaust.
Mitläufertum und Schweigen
Die Mehrheit der evangelischen Kirche und ihrer Vertreter verhielt sich passiv. Sie arrangierten sich mit dem Regime, schwieg zu den Verbrechen oder unterstützte diese indirekt. Der weitgehende Anpassungskurs der Kirche wurde von der Hoffnung geleitet, eigene Privilegien und Einflussbereiche im nationalsozialistischen Staat zu bewahren.
3. Die evangelische Kirche nach 1945: Aufarbeitung und Versäumnisse
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs stand die evangelische Kirche vor der Herausforderung, sich mit ihrer Rolle während der NS-Zeit auseinanderzusetzen. Die ersten Jahre nach 1945 waren jedoch geprägt von Schweigen und Verdrängung. Viele Vertreter der Deutschen Christen blieben in ihren Ämtern, und es dauerte Jahrzehnte, bis eine ernsthafte Aufarbeitung begann.
Die Stuttgarter Schulderklärung (1945)
Ein erster Schritt zur Selbstkritik war die Stuttgarter Schulderklärung der Evangelischen Kirche im Oktober 1945. In ihr bekannte die Kirche ihre Mitschuld am Versagen im Dritten Reich und rief zu einem Neuanfang auf. Kritiker bemängelten jedoch, dass die Erklärung nur allgemein formuliert war und keine klare Stellungnahme zu den spezifischen Verbrechen des NS-Regimes enthielt.
Späte Aufarbeitung
Erst in den 1980er und 1990er Jahren setzte eine intensivere Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit ein. Theologen und Historiker untersuchten die Verstrickung der Kirche mit dem NS-Regime, und es wurden zahlreiche Studien veröffentlicht, die das Ausmaß der Anpassung und Komplizenschaft aufzeigten.
4. Lehren aus der Geschichte
Die Verstrickung der evangelischen Kirche mit dem Nationalsozialismus zeigt, wie gefährlich es ist, wenn sich religiöse Institutionen nicht klar gegen menschenverachtende Ideologien positionieren. Die Kirche hat aus ihrer Vergangenheit gelernt und setzt heute verstärkt auf eine klare Abgrenzung zu extremistischen Strömungen. Die Entscheidung der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland, AfD-Mitglieder von Leitungsfunktionen auszuschließen, ist ein Beispiel für diese Haltung.
Die Geschichte der evangelischen Kirche im 20. Jahrhundert mahnt uns, wachsam zu bleiben. Institutionen, die sich für ethische Werte einsetzen, dürfen sich nicht von Macht und Ideologien vereinnahmen lassen. Stattdessen sollten sie ihrer Verantwortung gerecht werden, gegen Hass und für Menschlichkeit einzutreten – damals wie heute.